Berlin, 27. Juni 2025
Stellungnahme des Legal Tech Verband Deutschland
Zur Evaluierung des Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit (OVErpG)
Der Legal Tech Verband (im Folgenden „Verband“) unterstützt die Fortschreibung und Weiterentwicklung des Gesetzgebungsverfahrens zur Erprobung eines digitalen Zivilverfahrens uneingeschränkt und bedankt sich für die Möglichkeit zum aktuellen Referentenentwurf Stellung nehmen zu können. Der Verband verfolgt das Ziel, die Digitalisierung im Rechtsbereich voranzutreiben und so den Zugang zum Recht zu vereinfachen.
In dieser Stellungnahme wird zur besseren Lesbarkeit überwiegend das neutrale Maskulin verwendet. Selbstverständlich sind damit stets alle Geschlechter gemeint.
Hintergrund
In unserer Stellungnahme vom 15. Juli 2024[1] zum vorangegangenen Entwurf aus der 20. Legislaturperiode haben wir die Notwendigkeit niedrigschwelliger Zugangsmöglichkeiten und effizienter digitaler Prozesse hervorgehoben. Wir begrüßen ausdrücklich die Aufnahme zentraler Impulse aus unserem Papier, wie bspw. die Forderungen zur nutzerzentrierten, strukturierten und digitalen Verfahrensgestaltung und das Einrichten von Reallaboren für digitale Verfahren. Des Weiteren begrüßen wir die Einstufung des Vorhabens als besonders eilbedürftig. Seit seiner Gründung setzt sich der Verband für einen gerechten und zeitgemäßen Zugang zum Recht ein. Die digitale Transformation setzt voraus, dass rechtsstaatliche Verfahren auch in einer zunehmend digitalisierten Lebensrealität funktionieren. Nur wenn digitale Mittel auch in der rechtlichen Praxis Einzug halten, kann das Versprechen des Rechtsstaats, Gleichheit vor dem Gesetz und effektive Rechtsdurchsetzung, dauerhaft eingelöst werden.
Dafür braucht es nicht nur technische Systeme, sondern auch digitaltaugliches Recht. Und damit gesetzliche Verfahren, die auf strukturierten Daten, automatisierten Abläufen und digitale Kommunikation ausgelegt sind. Nur so können Justiz, Anwaltschaft und die Gesellschaft von den Potenzialen der Digitalisierung profitieren. Beispielsweise in Form von schnelleren Verfahren und besserem Zugang insbesondere für bislang benachteiligte Gruppen. Wenn Recht nicht digital gedacht wird, verliert es langfristig seine Wirkungskraft.
Bewertung der wesentlichen Regelungen und Änderungen des vorliegenden Entwurfs
- Reduzierte Gerichtsgebühr
Die weiterhin bestehende Reduzierung der Verfahrensgebühr im Online-Verfahren ist zu begrüßen, da es den Anreiz für die Nutzung des Verfahrens weiter erhöht. Wir befürworten diese Regelung ausdrücklich.
- Streitwertgrenze ( 23 Nr. 1 GVG )
Die Beschränkung des Online-Verfahrens auf zivilrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von zur Zeit 5.000 EUR (§ 1122 Abs. 2 ZPO-E) hat zwar einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt (§ 23 Nr. 1 GVG), dennoch ist diese Grenze zu überdenken. Bei gleichgelagerten Sachverhalten hat diese Grenze keinen sachgerechten Anknüpfungspunkt an den Gegenstand des Rechtsstreits. Auch erscheint fraglich, ob die Landgerichte von vornherein gänzlich aus dem Online-Verfahren ausgeschlossen werden sollten. Daher ist in Betracht zu ziehen, ob nicht eine anderweitige inhaltliche Differenzierung vorzunehmen ist, auch wenn diese komplexer ist. So zeigen die Erfahrungen der vergangenen Jahre, dass Legal Tech-Lösungen weniger abhängig von einem Streitwert sind, sondern sich vielmehr an der Frage eines gleichgelagerten Sachverhalts orientieren. Denkbar wäre insofern ab der Streitwertgrenze des § 23 Nr. 1 GVG nur bestimmte Rechtsgebiete auszunehmen, wie etwa die, welche unter die Zuständigkeiten der besonderen Kammern (bspw. Kammern für Handelssachen, Wirtschaftsstrafkammern) an den Landgerichten fallen oder Rechtsgebiete, die in der Regel emotional aufgeladen und komplex sind (bspw. Erbrechtliche Streitigkeiten).
- Anwälte
Die Verpflichtung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten zur strukturierten Übermittlung von Anträgen und Erklärungen (§ 1132 Abs. 2 Satz 2 ZPO-E) ist aus unserer Sicht ein entscheidender Schritt hin zu einer datengestützten, automatisierbaren Justiz. Sie schafft die Voraussetzungen für effizientere Gerichtsprozesse und technische Interoperabilität und ist unerlässlich.
- Digitale Strukturierung
Die Ausweitung zur Strukturierung des Prozessstoffs in einem digitalen Verfahrensdokument durch § 1126 ZPO-E und die Pflicht zur strukturierten Datenübermittlung für Anwälte (§ 1132 Abs. 2 S. 2 ZPO-E) entspricht einer Kernforderung des Verbands: Rechtsdurchsetzung effizient, automatisierbar und integrationsfähig zu gestalten. Vor allem auch mit Blick auf zukünftige KI-Nutzung.
- Örtliche Zuständigkeitskonzentration (§ 1123 Abs. 2–3 ZPO-E)
Die Möglichkeit, Online-Verfahren auf bestimmte Amtsgerichte zu konzentrieren, ermöglicht eine gebündelte Wissensallokation zur Weiterentwicklung digitaler Eingabesysteme. Dies erhöht die Effizienz und wird von uns begrüßt.
- Digitale Kommunikation (§ 1124 ZPO-E)
Eine digitale Kommunikation ist sowohl auf einem sicheren Übermittlungsweg (nach § 130a Absatz 4 Satz 1 Nummer 1, 3 und 4 ZPO) als auch über eine Kommunikationsplattform nach §§ 1130, 1131 ZPO-E vorgesehen. Für den Zugang der Bürger dürfen hier die Registrierungshürden nicht unnötig komplex gestaltet werden, sondern durch niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten (wie etwa die bestehende BUND-ID) ersetzt werden.
- Evaluierung und Weiterentwicklung (§ 1134 ZPO-E)
Eine erweiterte Evaluierung zeigt die Bereitschaft zu einer lernenden Gesetzgebung im Zeitalter rasanter Entwicklungen, die durch die digitale Transformation bedingt sind. Damit ist die erweiterte Evaluierung ein zentrales Prinzip für eine technologieoffene und evidenzbasierte Weiterentwicklung.
- Digitale Rechtsantragstelle
Mit der Einbindung der digitalen Rechtsantragstelle wird ein dringend benötigter bürgernaher Zugang zu niedrigschwelliger Justiz realisiert.
- Kommunikation über Plattform statt Postfach
Der Entwurf löst sich von der bloßen Nachbildung analoger Postwege und sieht eine Verfahrensführung über eine neue bundeseinheitliche Kommunikationsplattform vor. Diese Entwicklung begrüßen wir, sie entspricht unseren Empfehlungen für eine zukunftsfähige, offene, interaktive Justizplattform.
Bundeseinheitliche Eingabesysteme als Schlüsselelement für Zugang zum Recht
Die Eröffnung des Online-Verfahrens über bundeseinheitlich bereitgestellte Eingabesysteme unterstützen wir ausdrücklich und begrüßen, dass der Entwurf die Empfehlungen der Reformkommission „Zukunft des Zivilprozesses“ damit aufgreift. Diese Eingabesysteme ermöglichen eine strukturierte, barrierefreie und nutzerfreundliche Klageerhebung und sind damit ein zentrales Element eines modernen Zugangs zum Recht. Die Anbindung erfolgt auf technischer Ebene über den elektronischen Rechtsverkehr, wobei Bürgern und Bürgerinnen der kostenfreie Dienst „Mein Justizpostfach“ zur Verfügung steht. Für die Anwaltschaft wird die bestehende beA-Infrastruktur genutzt. Die Zugangsvoraussetzungen für nicht anwaltlich vertretene Bürger sind niedrigschwellig zu gestalten. So wird den Rechtssuchenden eine realistische und verständliche Teilhabe am Verfahren ermöglicht.
Die bundeseinheitliche Ausgestaltung trägt darüber hinaus zu einer konsistenten Nutzererfahrung bei, wird so zur Rechtssicherheit beitragen und vermeidet einen föderalen Flickenteppich. Darüber hinaus schafft sie eine standardisierte technische Basis, die Interoperabilität der Systeme begünstigen könnte. Es ist essenziel, dass unterschiedliche technische Infrastrukturen, wie etwa von Gerichten, Verfahrensbeteiligten, der Verwaltung und Legal Tech-Anbietern, reibungslos zusammenarbeiten können. Nur so kann ein föderales System wie die deutsche Justiz einheitlich und nachhaltig digitalisiert werden. Legal Tech-Anbieter können durch standardisierte, digitale Vorverarbeitung und strukturierte Kommunikation den Zugang zum Recht vereinfachen und die Justiz bei der Bearbeitung entlasten. Damit dies funktioniert, müssen ihre Systeme allerdings interoperabel mit denen der Justiz sein. Etwa über definierte Schnittstellen und gemeinsame Datenformate. Zusätzlich könnten allgemeine Zugangshürden durch die konsequente Integration bereits etablierter Systeme wie der BUND-ID, die bereits in vielen Verwaltungsverfahren etabliert ist, deutlich vereinfacht werden. Dies ist vor allem bei dem Zugang der Bürger zu den Kommunikationsplattform nach §§ 1130, 1131 ZPO-E zu beachten.
Ferner wird die Bedienungsfreundlichkeit der Kommunikationsplattformen für die Akzeptanz des Online-Verfahrens entscheidend sein. Hier sollte man auf die umfangreiche Erfahrung von lang etablierten Legal Tech-Unternehmen zurückgreifen.
Reallabore und Innovationsraum
Die gesetzliche Verankerung von Reallaboren im neuen zwölften Buch der ZPO ermöglicht eine kontrollierte und rechtsstaatlich eingebettete Erprobung digitaler Verfahren. Wir begrüßen, dass der vorliegende Entwurf hier zahlreiche Empfehlungen der Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ aufgreift. Auch in unserem Impulspapier von April 2025 verweisen wir auf die dringend notwendige Möglichkeit, mit Reallaboren praxistaugliche Lösungen zu entwickeln und zu evaluieren.[2]
Die Einführung eines generellen Freibeweises könnte die Verfahrensführung zusätzlich beschleunigen. Gerade im Rahmen eines Reallabors kann geprüft werden, wie sich ein genereller Freibeweis bei massentauglichen Sachverhalten auf die Qualität und Effizienz der Entscheidungsfindung auswirkt. Der Gesetzgeber sollte diese Option ausdrücklich im Evaluierungsrahmen berücksichtigen.
Eine Testphase von 10 Jahren erscheint jedoch zu lange, insbesondere da der digitale und technische Wandel rasant an Fahrt aufgenommen hat. Es sollte die Möglichkeit bestehen, dass Online-Verfahren im Falle eines Erfolges bereits nach 3-5 Jahren dauerhaft zu etablieren und die Beschränkungen aufzuheben bzw. weiter zu reduzieren.
Kernforderungen Des Verbandes
Unsere ursprünglichen Forderungen für die Umsetzung behalten weiterhin ihre Gültigkeit und werden hier vollständigkeitshalber noch einmal aufgezählt:
- Von dem weiten Gestaltungsraum sollte umfassend Gebrauch gemacht werden und eine Vielzahl von Anwendungsfeldern für die Bürger eröffnet werden.
- Die Schaffung von weitergehenden Konfliktlösungsangeboten für die Parteien sollte dabei ein Schwerpunkt sein.
- Die digitalen Eingabesysteme sollten eine Strukturierung des Sachvortrags ermöglichen, welche sowohl mit einer Vereinfachung für die Parteien als auch mit einer Einsparung von Justizressourcen einhergeht.
- Die Zugangsschwellen für die Parteien sind niedrig zu gestalten. Diese gilt insbesondere für den Zugang der Bürger zu den digitalen Kommunikationspattformen. Etwaige komplexe Nutzungsvorgaben sind durch existierende einfachere Wege (wie etwa die BUND-ID) zu ersetzen..
- Entsprechende Angebote sind durch sinnvolle (Aufklärungs-) Kampagnen derart publik zu machen, dass die Bürger Kenntnis erlangen, für welche Ansprüche die digitalen Angebote genutzt werden können.
- Die Eingabesysteme sollten für Bürger derart attraktiv gestaltet werden und durch selbsterklärende Navigations- und Assistenzfunktionen unterstützt werden, dass sich die Zielsetzung der Stärkung eines bürgernahen Zugangs zum Recht durch den Abbau von Zugangshürden verwirklichen kann.
- Die Plattformlösungen sollten mittel- und langfristig geeignete Datentransferlösungen bereithalten, um die Zukunftsfähigkeit zu gewährleisten.
- Die Plattformlösungen sollten eine derart strukturierte Datenaufbereitung beinhalten, dass zukünftig auch KI-Systeme daran anknüpfen können.
- Ein konstruktiver und innovativer Umgang mit Fehlern muss gewährleistet werden (modernes Fehlermanagement).
- Ein bisher nicht vorgesehener Wechsel vom Onlineverfahren ins Regelverfahren oder umgekehrt ist zu überdenken, um eine weitere Flexibilisierung zu ermöglichen.
- Innerhalb der Beweiserhebung ist zu überdenken, ob ein genereller Freibeweis zugelassen werden sollte, um eine signifikante und sinnvolle Beweiserhebung zu ermöglichen.
Handlungsempfehlungen auf einen Blick
- Starre Streitwertgrenze überdenken: Stattdessen inhaltliche Anknüpfungspunkte in Betracht ziehen.
- Verpflichtende strukturierte Datenübermittlung stärken: Die bereits eingeführte Pflicht für Anwälte (§ 1132 ZPO-E) sichern und evaluieren.
- Digitale Strukturierung weiterentwickeln: Strukturierte Verfahrensdokumente (z. B. nach § 1126 ZPO-E) als Grundlage für KI-Anwendungen und Automatisierung konsequent fördern.
- Reallabore aktiv nutzen: Reallabore nicht nur gesetzlich ermöglichen, sondern in der Praxis als Entwicklungsräume für moderne Verfahrenskonzepte (z. B. generellen Freibeweis bei digitalen Verfahren prüfen, KI-gestützte Prozesse prüfen) konkret einsetzen.
- Technische Interoperabilität sicherstellen: Bundesweit einheitliche technische Standards und Schnittstellen (z. B. XJustiz, APIs) etablieren, um reibungslose Zusammenarbeit zwischen Justiz, Verwaltung und Legal Tech zu gewährleisten.
- Digitale Kommunikationsplattform vollständig umsetzen: Die Plattformlogik konsequent als neue Infrastruktur für gerichtliche Kommunikation nutzen – inklusive Assistenzsystemen, Dialogführung und strukturierter Kommunikation.
- Die Evaluierungsphase flexibilisieren: Bei positivem Verlauf sollte das Online-Verfahren bereits nach 3–5 Jahren verstetigt und bestehende Beschränkungen früher aufgehoben werden können. Angesichts der Dynamik technischer Entwicklungen ist eine zu starre Zehnjahresgrenze nicht mehr zeitgemäß.
Fazit
Die deutsche Justiz steht vor der Herausforderung, den digitalen Wandel aktiv zu gestalten und rechtsstaatliche Verfahren fit für die digitale Realität zu machen. Der vorliegende Entwurf markiert eine deutliche Weiterentwicklung für die deutsche Zivilgerichtsbarkeit und greift wesentliche Forderungen des Verbands auf, insbesondere in den Bereichen Einrichtung von Reallaboren, strukturierte Digitalprozesse und bürgernaher Zugang durch den Plattformansatz für Kommunikation. Die Einführung bundeseinheitlicher Eingabesysteme, strukturierter Datenformate sowie verbindlicher Nutzungspflichten ist ein bedeutender Fortschritt.
Diese Reformen sind zentrale Bausteine eines digitaltauglichen Rechts, das die Grundlage für eine moderne und bürgernahe Justiz schafft. Um Kompatibilitätsprobleme zu vermeiden, sollten technische Standards und Anbindungsmöglichkeiten (z. B. APIs) für Legal Tech-Anbieter frühzeitig definiert werden. Der Verband unterstützt den Entwurf und empfiehlt dessen rasche Umsetzung – unter Einbeziehung der aufgezeigten Weiterentwicklungspotenziale. Die Zukunft der deutschen Justiz darf nicht an übertriebener Vorsicht, föderaler Kleinteiligkeit oder mangelndem Innovationswillen scheitern.
Bei Rückfragen und den weiteren fachlichen Austausch stehen wir jederzeit gerne zur Verfügung.
[1] https://www.legaltechverband.de/aktivitaeten/stellungnahme-vom-15-juli-2024-zur-evaluierung-des-gesetzes-zur-entwicklung-und-erprobung-eines-online-verfahrens-in-der-zivilgerichtsbarkeit-overpg/
[2] https://www.legaltechverband.de/aktivitaeten/impulspapier-fuer-die-neue-bundesregierung-2025/