Am 10. Mai findet eine Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des deutschen Bundestages statt, zu dem unser Vorsitzender Philipp Plog geladen ist. Ziel der Anhörung ist es wirksame Regelungen zur Bewältigung von Massenverfahren zu schaffen. Dabei steht ein von der CDU veröffentlichtes Papier mit insgesamt elf Forderungen zur Änderung der Zivilprozessordnung im Vordergrund.

ZUSAMMENFASSUNG

Die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes vom Mai 2022, deren Forderungen die CDU mit dem Antrag in weiten Teilen übernimmt, möchte die geschilderte Überlastung der Justiz durch Verfahrensänderungen ausgleichen. Die vorgeschlagenen Änderungen der Zivilprozessordnung betreffen „Massenverfahren“ in typischen verbraucherrechtlichen Situationen (Kapitalanlage-, Verbraucherschutz-, Versicherungs- und Fluggastrechte). Fast alle Forderungen der CDU schränken die prozessualen Rechte und die Autonomie von Rechtsuchenden ein, und nur wenige Forderungen sollen zusätzliche Ressourcen schaffen.

Die Straffung des Zivilprozesses liefert jedoch keine Lösung für die strukturelle Krise der Justiz, die der Richterbund beschreibt. Die Schwierigkeiten beruhen nicht auf der Wahrnehmung von prozessualen Rechten durch Betroffene. Sondern darauf, dass die Bundespolitik die Richterschaft und ihre Verwaltung in den letzten Jahren völlig unzureichend mit finanziellen Mitteln, Personal, Technologie und Prozessen ausgestattet hat. Das politische Versäumnis kann nicht durch weniger Rechtsstaat kompensiert werden. Die Justiz muss zunächst in die Lage versetzt werden, die Verfahren organisatorisch in den Griff zu bekommen, mit einer modernen Form des Verfahrensmanagements ausgestattet und umfassend digitalisiert werden, und so die traditionelle Fallbearbeitung, die sie heute prägt, vollständig überwinden.

Es ist erstaunlich, dass der Richterbund keine angemessenen Ressourcen fordert, sondern sich auf die Reduzierung von Verfahren beschränken möchte. Es stellt sich auch die Frage, wie sich die Belastung der Justiz insgesamt darstellt. Denn auch wenn „Massenverfahren“ in einzelnen Spruchkörpern zur Überlastung führen, ist die Gesamtbelastung der Justiz in den vergangenen 15 Jahren signifikant zurückgegangen, bei den Amtsgerichten sogar bis zu 36 Prozent.

Die Forderung, nur Verfahrensrechte bei typischen Verbraucheransprüchen einzuschränken, ist aber nicht nur rechtstaatlich fragwürdig. Ein solches Vorgehen wäre auch rechtspolitisch eine Rolle rückwärts. Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren gerade erst Rechtssicherheit für Legal-Tech-Geschäftsmodelle geschaffen, bei denen Verbraucher, aber auch Gewerbetreibende niedrigschwellige Angebote zur Durchsetzung ihrer Rechte nutzen und bündeln können (Abtretungs-, Forderungskauf- und Stellvertretungsmodelle, häufig in Kombination mit Prozessfinanzierung). Er hat sich außerdem bewusst gegen ein kollektives Rechtsschutzverfahren entschieden, bei dem Klagen verfahrenstechnisch gebündelt werden. Solange sich Deutschland im Kern für individualrechtlichen Rechtsschutz entscheidet, müssen individuelle prozessuale Rechte gewährleistet sein.

Vor diesem Hintergrund – und mit dieser Priorisierung – halten wir es für richtig, einzelne Verfahrensvorschläge des Richterbundes gleichwohl aufzugreifen (Sprungrevision zu verfolgen, Strukturierung des Parteivortrages und Einrichtung von Hilfsspruchkörpern), während andere rechtsstaatlich fragwürdig sind (Beschränkung von Fristverlängerungen, „Übertragung“ von Beweisaufnahmen auf andere Verfahren und die faktische Abschaffung des Öffentlichkeitsprinzips). Schließlich ist auch rechtsdogmatisch unklar, wie das Rechtsinstitut „Massenverfahren“ ausgestaltet werden soll, ohne die Gefahr eines Spannungsverhältnisses zu „individuellen Verfahren“ zu schaffen.

STELLUNGNAHME DES LEGAL TECH VERBANDS IM EINZELNEN

Die CDU sieht die deutsche Justiz an der Belastungsgrenze, und zwar durch Massenverfahren im Kapitalanlage-, Verbraucherschutz-, Versicherungs- und Fluggastrecht. Sie stellt elf Forderungen zur Änderung der Zivilprozessordnung zusammen, mit denen sie der Justiz die Bewältigung der Verfahren erleichtern will. Die CDU übernimmt dabei einen Großteil der Forderungen, die eine Arbeitsgruppe des Deutschen Richterbundes im Jahr 2021 formuliert hat („Initiativ-Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur besseren Bewältigung von Massenverfahren in der Justiz“ vom Mai 2022, im Folgenden: DRB-Stellungnahme). Außerdem finden sich zwei neue Gedanken im CDU-Antrag: Es wird gefordert, „additive Effekte im Anwaltsgebührenrecht“ zu reduzieren und den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Justiz zu fördern.

Unsere Stellungnahme greift die zentralen Prämissen und Forderungen des CDU- Antrag auf. Da der Antrag keine konkreten Formulierungen für geänderte ZPO-Normen enthält und auch die veränderten Regelungskonzepte, die er auflistet, nicht erörtert, nehmen wir in erster Linie auf die Argumentation im Forderungspapier des Deutschen Richterbundes Bezug. Insgesamt kann angesichts der vielfältigen prozessualen Implikationen der Vorschläge, vor allem aber wegen ihrer noch oberflächlichen Natur eine Auseinandersetzung nur auf der Ebene rechtspolitischer Konzepte stattfinden. Dazu dient nach unserem Verständnis auch die Anhörung im Rechtsausschuss.

1. Die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes vom Mai 2022 ist ein Dokument der Verzweiflung. Es wird deutlich, dass Richterinnen und Richter, die mit einer Vielzahl von Verfahren konfrontiert sind, sie nicht mehr bewältigen können. Die Autoren sehen „Handlungsbedarf, um die Arbeitsfähigkeit der Gerichte sicherzustellen und „einem Vertrauensverlust in die Funktionsfähigkeit der Justiz entgegenzuwirken“ (S. 2 der DRB-Stellungnahme). Es soll versucht werden, die persönliche und institutionelle Überforderung durch Verfahrensänderungen auszugleichen, allerdings nur für „Massenverfahren“. Andere, individuelle zivilrechtliche Verfahren sollen offenbar nicht beschleunigt oder verändert werden.

2. Fast alle dieser Forderungen schränken die prozessualen Rechte und die Autonomie von Rechtsuchenden ein (Ausweitung der Sprungrevision, Verfahrensfortführung trotz Rücknahme von Rechtsmitteln, Aussetzung von Verfahren, Beschränkung von Fristverlängerungen, Einschränkung des Prozessvortrags, Erstreckung von Beweisaufnahmen auf „vergleichbare Fälle“, Verweigerung der mündlichen Verhandlung ohne Zustimmung der Parteien). Es finden sich nur wenige Vorschläge, die Verfahrensrechte aus Sicht der Rechtsuchenden ausbauen oder neue Ressourcen an den Gerichten schaffen würden (Durchführung von Pilotverfahren in der Revisionsinstanz zur Beschleunigung anderer Verfahren; Einrichtung von Hilfsspruchkörpern).

Die Straffung des Zivilprozesses in einem bestimmten Arbeitsfeld mag geeignet sein, die Belastung einiger Bereiche in der Justiz punktuell zu reduzieren. Sie liefert aber keine Lösung für die strukturelle Krise der Justiz in Deutschland. Die enormen Schwierigkeiten beruhen nicht auf der Wahrnehmung von prozessualen Rechten durch Betroffene, sondern auf umständlichen Prozessen, einem unterfinanzierten Apparat und vor allem einem Grad der Digitalisierung, der auch im Vergleich zu den anderen Akteuren im Rechtssystem, unterentwickelt ist. Dies folgt auch aus einer internationalen Vergleichsstudie, die der Legal Tech Verband zusammen mit der Bucerius Law School und der Boston Consulting Group im Juni 2022 veröffentlicht hat (“Die Zukunft digitaler Justiz“). Dort wurde herausgearbeitet, dass Deutschland fünf bis zehn Jahre Rückstand auf die Digitalisierung der Justiz in Großbritannien, Singapur, Österreich und Kanada hat (unter diesen Vorreitern finden sich übrigens zwei Länder, die – wie Deutschland – föderalistisch organisiert sind). Eine wesentliche Erkenntnis der Studie ist, dass die Justizorganisation und die Prozessordnungen in Deutschland nicht digital gedacht werden, sondern – wie der vorliegende CDU-Vorstoß – nur punktuelle Anpassungen der „analogen Vorgehensweise“ versuchen, und auch dies nur sehr zögerlich (vgl. auch unsere Stellungnahme zu Videoverhandlungen im Zivilprozess vom Januar 2023, Abschnitt 2 und 5, „Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik“). Auch fehlt es – anders als in den digital führenden Jurisdiktionen – an einer Strategie, welche die Ebene des materiellen und prozessualen Rechts im Zusammenhang mit den technologischen Rahmenbedingungen in der Justizverwaltung und den erforderlichen Anwendungsprogrammen betrachtet (3-Ebenen-Modell der internationalen Vergleichsstudie).

Die Justiz muss jetzt in die Lage versetzt werden, die Verfahren organisatorisch in den Griff zu bekommen, mit einer modernen Form des Verfahrensmanagements ausgestattet und umfassend digitalisiert werden, und so die traditionelle Fallbearbeitung, die sie heute prägt, vollständig überwinden. Auch die vom Richterbund beschriebene Überlastung ist möglicherweise ein Problem des Ressourcen- und Verfahrensmanagements innerhalb der Justiz. Denn es ist nicht richtig, dass „Massenverfahren“ zu einer flächendeckenden Überlastung der Justiz in Deutschland führen. Der „Abschlussbericht zur Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“, der im Auftrag des Bundesjustizministeriums im April 2023 vorgelegt wurde, hat herausgearbeitet, dass die Gesamtbelastung der Justiz zwischen 2005 und 2019 signifikant abgenommen hat – und zwar um 36 % bei den Amtsgerichten und rund 20 % bei den Landgerichten (Abschlussbericht, S. 23 ff.).

3. Der Wunsch, Verfahrensrechte bei typischen Verbraucheransprüchen einzuschränken, wäre nicht nur rechtstaatlich verfehlt. Er wäre auch rechtspolitisch ein Rückschritt. Der deutsche Gesetzgeber hat in den vier vergangenen Jahren Rechtssicherheit für Legal Tech-Geschäftsmodelle geschaffen, bei denen Verbraucher:innen, aber auch Gewerbetreibende niedrigschwellige Angebote zur Durchsetzung ihrer Rechte nutzen. Diese Beratungsangebote haben den Zugang zum Recht verbessert, gerade im Bereich der Streu- und Bagatellschäden und bei kleinen Forderungen von Verbrauchern, die wegen der Kostenrisiken einer gerichtlichen Auseinandersetzung und wegen ihrer strukturellen Unterlegenheit den Konflikten häufig ausweichen („rationales Desinteresse“). Angebote wie von, wenigermiete.de, myright, Flightright oder Helpcheck, nehmen Inhabern von kleinen Forderungen das Prozesskostenrisiko ab, und bekommen im Falle des Erfolges einen Anteil am Erlös. Oft funktionieren sie als Abtretungsmodelle, durch Forderungserwerb oder in Stellvertretung, und häufig in Kombination mit Prozessfinanzierung. Der Gesetzgeber hat sie im Jahr 2022 durch die Reform des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) rechtssicher gemacht („Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt“, August 2021), und vor wenigen Monaten in einer zweiten Runde die Zentralisierung der Aufsicht im Rechtsdienstleistungsgesetz beschlossen („Gesetz zur Stärkung der Aufsicht bei Rechtsdienstleistungen“, Februar 2023).

Auch der Bundesgerichtshof hat mit Entscheidungen in den letzten Jahren Rechtssicherheit für die Bündelung von Ansprüchen geschaffen (Entscheidungen zu wenigermiete.de 2019, Smartlaw 2021, Airdeal 2021, Financialright 2022). Jetzt, wo Verbraucher:innen diese Beratungsmodelle vermehrt in Anspruch nehmen, kann es nicht richtig sein, ihnen Verfahrensrechte einseitig wieder zu entziehen. Denn die individuellen Ansprüche, die hier – in größeren Fallzahlen – geltend gemacht werden, sind nicht weniger berechtigt als andere rechtliche Anliegen, die nicht gebündelt oder skaliert werden. Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber sich in Deutschland bewusst gegen ein echtes Massenverfahren im US-amerikanischen Sinne entschieden hat. Dort werden Klagen verfahrenstechnisch gebündelt und unterliegen einer eigenen prozessualen Dynamik (Erstreckung auf alle Betroffenen, Erstreckung der Rechtskraft, direkte Durchsetzung von Ansprüchen, Aufbau von Verhandlungsmacht, besondere Vergleichsdynamik). Die deutsche Entscheidung für die Musterfeststellungsklage, die keine direkte Durchsetzung von Ansprüchen vorsieht, hat sich als falsch erwiesen und die Bundesregierung ist jetzt im Begriff, dies mit der Abhilfeklage zu korrigieren. Auch diese ist allerdings halbherzig angelegt und wird angesichts der hohen Verfahrens- und Finanzierungshürden nicht dazu führen, dass damit Einzelansprüche in unterschiedlichsten Rechtsgebieten gebündelt werden.

4. Wenn die – durchaus radikale – Modernisierung der Justiz gewährleistet ist, halten wir es für richtig, ergänzend einzelne Verfahrensvorschläge des Richterbundes aufzugreifen, während andere rechtsstaatlich nicht darstellbar sind.

Wir halten es für denkbar, die Ausweitung von Vorabentscheidungen und Sprungrevision zu verfolgen, über eine Strukturierung des Parteivortrages nachzudenken und Hilfsspruchkörper einzuführen (Ziffer 1, 2, 6 und 7 des Antrags). Wir halten darüber hinaus auch die Abschaffung von überkommenen Formerfordernissen für sinnvoll, bei denen Gerichtsverfahren häufig verzögert und sabotiert werden, ohne dass dieses Ergebnis von der Prozessordnung gewollt wäre (vgl. das Positionspapier des Startup-Verbands vom Juni 2019 zur RDG-Reform). Deshalb plädieren wir zum Beispiel für die umfassende digitale Abwicklung von rechtlicher Vertretung (mit der „einfachen“ digitale Signatur), insbesondere für den gerichtlichen Nachweis von Beauftragung und Abtretungen (§§ 410, 174 BGB).

Dagegen halten wir die prinzipielle Beschränkung von Fristverlängerungen, die „Übertragung“ von Beweisaufnahmen auf andere Verfahren und die faktische Abschaffung des Öffentlichkeitsprinzips für rechtsstaatlich angreifbar (Ziffern 5, 8, 9 des Antrags). Es macht auch keinen Sinn, die gesetzliche Anwaltsvergütung für „Massenverfahren“ zu verändern, da es auch mit der Abhilfeklage keinen umfassenden kollektiven Rechtsschutz in Deutschland geben wird, der eine Vielzahl von Verfahren auf ein einziges reduziert (Ziffer 10 des Antrags). Solange dies der Fall ist, müssen Anwält:innen fallbezogen vergütet werden, und genau das leistet das deutsche Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) mit einer austarierten Gebührenlogik. Im Übrigen läuft der CDU-Antrag auf einen Eingriff in die „Waffengleichheit“ hinaus, denn die angedachte Reduzierung der Anwaltshonorare auf der Klägerseite wirkt gerade dann besonders stark, wenn man sich vor Augen führt, dass beklagte Unternehmen für ihre Rechtsverteidigung zwei- und dreistellige Millionenbeträge aufwenden. Ließe man das unangetastet und beschränkte die Anwaltshonorare auf der Klägerseite, wäre das ein möglicher Verstoß gegen Art. 3 GG und eine Beschränkung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes.

Es ist schließlich rechtsdogmatisch unklar, wie das Rechtsinstitut „Massenverfahren“ ausgestaltet werden soll. Wenn mit der Einordnung eines Anspruches als Teil eines Massenverfahrens eine erhebliche Einschränkung von Verfahrensrechten gebunden ist, werden überlastete Richter und Richterinnen eine Neigung haben, diesen Tatbestand frühzeitig anzunehmen. Dies kann dazu führen, dass etwa Rückzahlungsansprüche von Diesel-Geschädigten oder gewerblichen Kartell-Opfern je nach Kontext als Massenverfahren oder eben als Individualverfahren geführt werden können. Das schafft die Gefahr eines Rechtsschutz-Gefälles, und spricht dafür, dass Verfahrensänderungen im Zweifel für alle zivilrechtlichen Ansprüche durchgeführt werden müssen.